03.08.2018
Aus Sicht vieler Schwellen- und Entwicklungsländer muss die Unfähigkeit der deutschen Regierung, den Ausstieg aus der Braunkohle zu organisieren, wie eine Farce erscheinen. Ein Theater mit negativer Beispielwirkung: Warum sollten diese Länder ihre fossile Energieerzeugung umstellen, wenn nicht einmal das reiche Deutschland die politische Kraft hat, um die Kraftwerke mit den größten CO2-Emissionen abzuschalten?
An dieser Stelle eine Gegenthese zum Versagen der deutsche Klimapolitik: Es ist gut, dass wir, anders als nach der Wende in Ostdeutschland, die Braunkohlewirtschaft nicht einfach "abwickeln" und die Regionen dem blinden Markt überlassen können. Auch wenn wir das Geld dazu hätten. Damit sind wir endlich in einer vergleichbaren Lage wie die Politiker in Ländern wie Polen, Tschechien oder Indien. Wir brauchen Lösungen, die auch für Länder taugen, die kaum das Geld für einen aufwendigen ökologischen Umbau haben.
Weitaus wirkungsvoller als die Ansiedlung angeblich zukunftssicherer Arbeitsplätze mithilfe staatlicher Subventionen wäre eine deutliche Absenkung von Lohnnebenkosten für neu zu schaffende Arbeitsplätze. Möglichst dauerhaft, als Vorgriff auf zukünftig bundesweite Rahmenbedingungen.
Einen vergleichbaren Vorschlag hatte die FDP in den 1990er Jahren unterbreitet. Sie schlug damals vor, für ostdeutsche Krisenregionen die Mehrwertsteuer zu senken. Das Konzept hatte allerdings den Nachteil, dass es zu Missbrauch durch Briefkastenfirmen eingeladen hätte. Bei der Mehrwertsteuer ist völlig unklar, welchem Standort das Produkt zugeordnet werden kann. Lohnnebenkosten sind dagegen weitaus klarer einem Standort zuzuordnen.
Für unseren Vorschlag können wir auf ein bereits existierendes Modell zurückgreifen: Für Seeleute auf deutschen Handelsschiffen werden sämtliche Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung zu 100 Prozent bezuschusst.
Nachfolgend eine Kostenabschätzung für unseren Vorschlag, mit welchem die Ansiedlung von knapp 21.000 neuen Arbeitsplätzen gefördert werden soll. Wir gehen vom Idealfall einer vollständigen Streichung der Lohnnebenkosten für Arbeitgeber aus. Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung von durchschnittlich 9.500 Euro pro Beschäftigen ergeben jährliche Gesamtkosten von knapp 200 Millionen Euro. Im Unterschied zum Modell der Handelsschifffahrt sollen die Kosten über einen Aufschlag auf den Strompreis oder eine CO2-Steuer aufgebracht werden.
Umgelegt auf den Strompreis würde sich ein geringer Strompreisaufschlag von knapp 0,04 Cent pro Kilowattstunde ergeben. Zum Vergleich: Die erste Rate der Ökosteuerreform im Jahr 1999 betrug 1,1 Cent pro Kilowattstunde. Bei Variante zwei, einer Umlage der Mehrkosten auf den CO2-Ausstoß der Stromerzeugung, würden zusätzliche Kosten von 66 Cent pro Tonne CO2 anfallen. Schmerzfreier ist Klimaschutz definitiv nicht zu haben.
Betroffen sind natürlich auch die indirekt von der Braunkohle abhängigen Arbeitsplätze: Dienstleistungsfirmen für die Braunkohlenunternehmen, außerdem Handel und Dienstleistungen für die Beschäftigten in der Region. Diese indirekten Effekte existieren allerdings auch für die neu entstehenden Unternehmen.
Zudem wird ein großer Teil der in der Braunkohlewirtschaft Beschäftigten noch etliche Jahre mit der Abwicklung der Braunkohleunternehmen und Renaturierung der ehemaligen Tagebauflächen ausgelastet sein. Damit sind vor allem die älteren Arbeitnehmer auf Jahre hin abgesichert.
Selbstverständlich muss gewährleistet werden, dass tatsächlich eine Erweiterung der Produktion erfolgt und nicht etwa Arbeitsplätze aus anderen Regionen umverlagert werden.
Die Absenkung sollte mindestens mittelfristig Bestand haben, im günstigsten Fall sogar dauerhaft gelten: als Vorgriff auf eine bundesweite Reform der Sozialversicherung. Für die langfristige Lösung können CO2-Steuern durch Energiesteuern abgelöst werden. Attraktiver geht es kaum für potenzielle Investoren.
Wäre das ein unzulässiger Eingriff in den Markt? Im Gegenteil: Es wäre der Einstieg in eine Korrektur falscher, weil fehlsteuernder Rahmenbedingungen. Welche eben nicht vom Markt, sondern vom Staat geschaffen worden sind.
Zur Erinnerung: Zwei Drittel aller Steuern und Abgaben werden beim Faktor Arbeit eingetrieben, während der Anteil der Energiesteuern an Steuern und Abgaben nur knapp dreieinhalb Prozent beträgt. Wenn man die EEG-Umlage mitzählt, wären es immer noch nur fünfeinhalb Prozent der gesamten Last an Steuern und Abgaben.
Das waren im Jahr 2017 rund 67 Milliarden Euro Energiesteuern plus EEG-Umlage bei insgesamt 1.185 Milliarden Euro an Steuern (675 Milliarden) und Sozialabgaben (510 Milliarden). Eine enorme Schieflage zwischen der Besteuerung von Arbeit und Energie.
Das Umwelt- und Prognose-Institut Heidelberg (UPI) schrieb schon 1988: "Wäre es Absicht der Steuer- und Abgabenpolitik der letzten Jahrzehnte gewesen, menschliche Arbeitskraft so zu verteuern, dass sie in der Konkurrenz zu Maschinen und Energie zunehmend aus dem Arbeitsmarkt verdrängt wird, hätte die Politik nicht wesentlich anders sein können."
Bei einer so geringen Erhöhung des Strompreises kann man weder von einer unzumutbaren Belastung noch von einer wirklichen Lenkungswirkung sprechen. Das heißt, es ist Luft nach oben für weitere Krisenregionen oder -branchen.
Man könnte theoretisch auch den Kreis derjenigen, bei denen die Lohnnebenkosten abgesenkt und durch Einnahmen aus CO2-Steuern ersetzt werden, erweitern. Zum Beispiel durch die Beschäftigten in Schulen, Kindertagesstätten, im Gesundheits- und Pflegebereich. Man könnte all das tatsächlich tun, ohne dass Wirtschaft und öffentliche Kassen Probleme bekommen würden.
Im Gegenteil: Die Finanzierung über sinnvoll lenkende CO2-Steuern ist gesichert, die Wirtschaft rechnet längst mit höheren CO2-Preisen. Je eher, desto schneller kann die notwendige Anpassung erfolgen. Aus den ehemaligen Krisenregionen könnten mit 30 Jahren Verspätung tatsächlich so etwas wie Helmut Kohls "Blühende Landschaften" werden.
Es ist klar, dass so eine positive Vision nicht unwidersprochen bleiben wird. Nach dem Motto: Wenn es so einfach wäre, hätte es schon längst eine solche Lösung geben müssen. Hätte, richtig.
Tatsächlich ist es der wohl größte Fehler beim Aufbau Ost gewesen, für die sozialen Kosten des wirtschaftlichen Umbruchs die Sozialbeiträge zu erhöhen, und für die Modernisierung der Infrastruktur die Solidarabgabe einzuführen. Beide verteuern unnötigerweise den Faktor Arbeit, was nur dazu führt, dass die sogenannte Modernisierung genau bei den Arbeitskosten ansetzt.
Ebenso gut hätten diese Sonderausgaben über eine Steuer auf den Faktor Energie finanziert werden können. Der Rationalisierungsdruck wäre ein ganzes Stück weit verschoben worden – vom Faktor Arbeit hin zum Faktor Energie.
Leider hat ganz Osteuropa die Wirtschaft nach gleichem Muster modernisiert, nach dem immer noch gültigen Modell des blinden Wirtschaftswachstums. Und hat damit, wie wir auch, eine Chance für eine sinnvolle Um-Steuerung der Wirtschaft verpasst. Mit negativen Folgen für den Arbeitsmarkt und den Klimaschutz.
Es wird Zeit, dass die Politik die notwendigen Weichenstellungen vornimmt. Je eher, desto besser für das Klima und die betroffenen Regionen. Das hier vorgeschlagene Finanzmodell für den Wandel der Braunkohleregionen wäre ein kleiner, aber wirkungsvoller Einstieg in eine sinnvolle Steuerung des Marktes. Auch als Beispiel für andere Staaten, die bisher unser fehlsteuerndes Modell kopieren.
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