Jürgen Grahl

Vom Elend der konventionellen Wirtschaftstheorien (Kurzfassung)

Die Entwicklungen der vergangenen Jahre haben immer offensichtlicher zutage treten lassen, dass die maßgeblichen wirtschaftspolitischen Konzepte unserer Zeit, sowohl der bis in die 1970er Jahre dominante nachfrageorientierte Keynesianismus als auch der seither scheinbar alternativlos herrschende angebotsorientierte Neoliberalismus, keine adäquate Antwort auf die heutigen Krisenerscheinungen, insbesondere die anhaltende Massenarbeitslosigkeit haben. Dies ist insofern nicht allzu verwunderlich, als beide von demselben falschen Paradigma ausgehen: So konträr die beiden Ansätze auf den ersten Blick auch wirken, so erbittert sich ihre Verfechter oftmals bekämpfen – letztlich handelt es sich bei beiden um "trickling down"-Theorien, denen es in erster Linie um die Förderung des Wirtschaftswachstums geht – in der selbstverständlichen Erwartung, dieses werde automatisch allen zugute kommen. Sie unterscheiden sich lediglich in den Methoden, mit denen sie Wachstum stimulieren wollen.

Der Neoliberalismus will durch Steigerung der Unternehmensgewinne, Deregulierung und "Entfesselung" der Marktkräfte Investitionen ermöglichen, die zur Schaffung neuer Arbeitsplätze führen sollen, während die (Neo-)Keynesianer auf eine Dämpfung der Konjunkturschwankungen durch antizyklische Haushaltspolitik, Wirtschaftsankurbelung durch staatliches "deficit spending" sowie die Förderung der Binnennachfrage setzen. Beide Ansätze lassen aber das derzeit bestehende fundamentale Ungleichgewicht zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Energie völlig außer Acht und kommen daher zu falschen Schlüssen.

Verdrängungswettbewerb zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Energie vernachlässigt

Der Denkfehler im neoliberalen Ansatz, zur Schaffung neuer Arbeitsplätze das Investitionsklima zu verbessern, liegt darin, dass Investitionen heute nur noch bedingt in den Faktor Arbeit fließen: In Deutschland wird seit 30 Jahren etwa ebenso viel in arbeitsplatzvernichtende Rationalisierungsmaßnahmen investiert wie in Arbeitsplätze schaffende Kapazitätserweiterungen; erst an der Beschäftigungsschwelle, jenen magischen 3% Wachstum pro Jahr, gewinnen die Erweiterungsinvestitionen allmählich die Oberhand. Auch eine Entlastung der Unternehmen ändert nichts an der relativen Unrentabilität der menschlichen Arbeit gegenüber Kapital und Energie: Arbeitsplätze entstehen nicht aus "karitativen" Motiven, weil sich die Unternehmen diesen "Luxus" aufgrund ihrer Gewinnsituation gewissermaßen "leisten" könnten, sondern nur dann, wenn es betriebswirtschaftlich sinnvoll ist – was unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen allzu häufig nicht der Fall ist: Es wird oft über die angeblich fehlende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft aufgrund des hohen Lohnniveaus geklagt - weitgehend zu Unrecht, immerhin ist Deutschland nach wie vor Exportweltmeister; der wesentlich bedeutsamere Verdrängungswettbewerb zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Energie hingegen wird komplett vernachlässigt. Die Börsen haben das Gefälle in den Produktionsmächtigkeiten zumindest intuitiv längst erkannt, was daran deutlich wurde, dass sie während des Booms der 1990er Jahre die Ankündigung von Massenentlassungen regelmäßig mit wahren Kursfeuerwerken honoriert haben.

Wachstumszwang auch bei (Neo-)Keynesianern

Auch die (neo-)keynesianischen Vorschläge, zur Konjunkturankurbelung neue Schulden in Kauf zu nehmen, kranken an der unkritischen Übernahme des Wachstumsparadigmas: Zwar handelt es sich bei der Idee der antizyklischen Haushaltspolitik um einen durchaus richtigen und vernünftigen Ansatz, der den USA (im Rahmen von Franklin D. Roosevelts "New Deal") aus der Weltwirtschaftskrise heraushalf, während in Deutschland die prozyklische Sparpolitik Brünings zu einer drastischen Verschärfung der Krise führte. Aber die heutige Situation ist mit der damaligen nicht vergleichbar: Wäre die heutige Arbeitslosigkeit konjunkturell bedingt, dann wäre (vorübergehendes!) staatliches "deficit spending" zur Wirtschaftsankurbelung in der Tat sinnvoll. Von konjunktureller Arbeitslosigkeit kann aber bei weiterhin, wenn auch "nicht schnell genug" wachsender Wirtschaft nicht die Rede sein; vielmehr resultiert unsere Arbeitslosigkeit weitgehend aus der Schieflage zwischen Arbeit und Energie. Dass dennoch allenthalben von "Konjunkturschwäche" und "lahmender Wirtschaft" gesprochen wird, ist eine Folge der unhaltbaren Vorstellung vom auch langfristig einzuschlagenden "Wachstumspfad" von 3% pro Jahr; so wird bereits ein Absinken auf 0,5% oder 1% als "Wirtschaftseinbruch" wahrgenommen, der dann eine staatliche Neuverschuldung rechtfertigt. Die Grenze zwischen "guten" und "schlechten" Zeiten wird völlig falsch gezogen; sie wird nicht etwa, wie es vernünftig wäre, durch die Nulllinie ("Nullwachstum") markiert, sondern durch jenen "Wachstumspfad" von 3%.

Die Konsequenz: Seit über 30 Jahren haben wir fast nur noch schlechte Zeiten, weil wir jene 3% schlichtweg nicht mehr erreichen, müssen daher die Wirtschaft permanent "ankurbeln" und nehmen dazu von Jahr zu Jahr immer gigantischere Schulden auf. Diese würden wir auch tilgen, sobald mal wieder "gute" Zeiten kämen; nur: Die guten Zeiten wollen partout nicht kommen - unvermeidliche Folge unserer verzerrten Betrachtungsweise. Das Ganze ist aus zwei Gründen fatal: Zum einen bedeuten die damit verbundenen Zinszahlungen (derzeit 38 Milliarden Euro pro Jahr allein auf die Bundesschuld) eine gigantische Umverteilung von unten nach oben, von der Gesamtheit der Steuerzahler hin zu den Vermögenden; zudem verstärken die immer drückenderen, durch den Zinseszinseffekt dramatisch eskalierenden Zinslasten die Wachstumabhängigkeit noch weiter, da nur durch weiteres Wachstum die Belastung halbwegs erträglich, die Zinszahlungen finanzierbar gehalten werden können. Zum anderen bleibt das solchermaßen viel zu teuer bezahlte Wachstum ohne erkennbare positive Auswirkungen, vermag allenfalls den weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit etwas zu bremsen. Ein neuerlicher kräftiger "Schluck aus der Pulle", eine weitere Erhöhung der Neuverschuldung würde die Probleme nicht lösen, sondern verschärfen. Angesichts des Schuldenabgrunds, an dem wir heute schon stehen, sind diesbezügliche Überlegungen bestenfalls als Ausdruck völliger Verzweiflung und Ratlosigkeit zu interpretieren.

Lohnpolitik vergrößert Schieflage zwischen Energie und Arbeit

Desweiteren verkennen die Neokeynesianer, dass die von ihnen ebenfalls propagierten Lohnerhöhungen zur Stärkung der Binnennachfrage das Ungleichgewicht zwischen Arbeit und Energie weiter vergrößern und damit den Rationalisierungsdruck, der auf der Arbeit lastet, noch erhöhen würden. Auch in dieser Hinsicht mutet der neokeynesianische Ansatz wie ein verzweifelter Versuch an, sich in Münchhausenscher Manier am Schopf der Problemursachen aus dem Sumpf der Probleme herauszuziehen.

Beide Konzepte, das keynesianische wie das neoliberale, sind also im Paradigma fortdauernden Wirtschaftswachstums gefangen; die unreflektierte gedankliche Identifikation von "Wachstum" mit positiv besetzten Begriffen wie "Fortschritt" oder "Aufschwung" hat den Blick darauf verstellt, wie sehr uns die Schieflage zwischen Arbeit und Energie geradezu zu Sklaven des Wachstums gemacht hat. Diesen grundlegenden Strukturfehler unseres Wirtschaftssystems durch eine Ankurbelung der Konjunktur lösen zu wollen, ist in etwa so sinnvoll, als würde man eine blockierende Bremse am Auto nicht reparieren, sondern zur Kompensation der erhöhten Reibung immer stärkere Motoren einbauen. Tatsächlich ist es nicht nötig, die Wirtschaft mühsam immer weiter anzukurbeln; vielmehr genügt es, den so schnell wie nie zuvor, aber in falscher Richtung fahrenden Wirtschaftstanker wieder auf den richtigen Kurs zu legen. Umsteuern durch Energiesteuern heißt daher das Gebot der Stunde!

Die Langfassung des Artikels finden Sie hier.


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