18.09.2010

Jürgen Grahl

Arbeitsproduktivität -- ein missverstandener Begriff

In der öffentlichen Diskussion über ökonomische Fragen taucht immer wieder der Begriff der Arbeitsproduktivität auf; aber oftmals sind diejenigen, die ihn verwenden, sich nicht wirklich darüber im Klaren, was er bedeutet -- und darüber, was er nicht bedeutet.

Definiert ist Arbeitsproduktivität als eine ganz nüchterne – man könnte sagen: adiaphorische – mathematische Größe: als das Verhältnis von erzielter Wertschöpfung zu hierfür eingesetzter (menschlicher) Arbeit (gemessen in Arbeitsstunden oder auch in Zahl der Beschäftigten). Interpretiert wird der Begriff hingegen oft in einer mit unbewussten Konnotationen aufgeladenen Weise, die durch seine Definition schlichtweg nicht gedeckt ist: Dass die Arbeitsproduktivität in Deutschland wie auch in den anderen Industrienationen seit Jahrzehnten kontinuierlich wächst, wird (1) unkritisch so interpretiert, dass der einzelne Arbeitnehmer immer mehr erwirtschaftet; damit wird dann (2) die Forderung nach Lohnerhöhungen begründet, da die höhere Leistung ja auch eine entsprechend bessere Bezahlung rechtfertige. Damit hängt zusammen, dass (3) steigende Arbeitsproduktivität als Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und damit eine Zunahme des allgemeinen Wohlstands gilt. Nicht nur deswegen wird sie (4) meist selbstverständlich als (wünschenswerter) Fortschritt interpretiert, wie es ja bereits die Formulierung vom „Produktivitätsfortschritt“ suggeriert. Alle diese Sichtweisen wollen wir im Folgenden kritisch hinterfragen.

Vorher aber sollte ich Sie vorsichtshalber beruhigen – für den Fall nämlich, dass Sie gerade erwägen, den Artikel erzürnt zur Seite zu legen, weil Sie aufgrund des Gesagten argwöhnen, er werde am Ende in ein neoliberales Plädoyer dafür münden, den Gürtel der arbeitenden Bevölkerung enger zu schnallen: Dies liegt mir gänzlich fern. Allerdings müssen wir uns der durchaus unbequemen Frage stellen, wie die Verteilung des Erwirtschafteten auch künftig sichergestellt werden kann – in den herkömmlichen Strukturen der Tarifverhandlungen gelingt dies jedenfalls nur noch mehr schlecht als recht.

Nun aber zu einer kritischen Analyse der obigen Punkte (1) bis (4). Wir stützen diese auf die u.a. in Umsteuern durch Energiesteuern und Produktionsfaktor Energie vorgestellten ökonometrischen Studien von R. Kümmel, W. Eichhorn, R. Ayres et al. [Quelle][Quelle][Quelle] zum Ungleichgewicht zwischen Produktionselastizitäten und Faktorkostenanteilen der Produktionsfaktoren Arbeit und Energie in den westlichen Industrienationen. (Eine Kurzzusammenfassung der wesentlichen Ideen findet sich im Anhang.) Diese Untersuchungen untermauern die (aus natur- und ingenieurswissenschaftlicher Sicht ohnehin selbstverständliche) Erkenntnis, dass Energie die überragende Produktivkraft in der modernen Wirtschaft darstellt; menschliche Arbeitskraft hat im Vergleich dazu eine eher schwache Stellung – ist aber dennoch der am stärksten mit Steuern und Abgaben belastete Faktor.

(1) Arbeitsproduktivität als Maß für die Bedeutung des Faktors Arbeit?

Die Arbeitsproduktivität sagt a priori nichts über die tatsächliche Bedeutung des Faktors Arbeit im Produktionsprozess aus; aus einer hohen Arbeitsproduktivität lässt sich nicht zwangsläufig auf eine hohe Bedeutung des Faktors Arbeit schließen. Ebenso voreilig ist es, den in der Vergangenheit zu beobachtenden Anstieg der Arbeitsproduktivität der gestiegenen Tüchtigkeit oder Qualifikation der Arbeiter zuzuschreiben; er könnte vielmehr sogar durch eine abnehmende Bedeutung des Faktors Arbeit für die Wertschöpfung bedingt sein. Ein (zugegebenermaßen provokatives) Extrem-Beispiel mag diese paradox anmutende Feststellung illustrieren: In dem Maße, in dem das Pferd im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Transportmittel und damit als Produktionsfaktor verdrängt (und durch Autos und Eisenbahnen ersetzt) worden ist, ist seine Produktivität (nämlich das Verhältnis von Wertschöpfung zu eingesetzter Zahl an Pferden) gewachsen; dennoch würde niemand daraus den Schluss ziehen, die Pferde seien seinerzeit immer leistungsfähiger geworden, oder davon sprechen, ein Pferd habe eine immer höhere Wertschöpfung erbringen können.

Abb. 1: In dem Maße, in dem das Pferd verdrängt (und durch Autos und Eisenbahnen ersetzt) worden ist, ist seine Produktivität (nämlich das Verhältnis von Wertschöpfung zu eingesetzter Zahl an Pferden) gewachsen (Grafik: Ingolstadter Pferdebahn, Ausschnitt aus einem Gemälde von Gustav Schröpler, ca. 1901)

An dieser Stelle sollte man sich erneut die Definition von Produktivität als Quotient aus Wertschöpfung und Faktoreinsatz vergegenwärtigen – und die Tatsache, dass ein Quotient sowohl wächst, wenn man seinen Zähler vergrößert, als auch wenn man seinen Nenner verkleinert. Für die gestiegene Arbeitsproduktivität gibt es also zwei Interpretationen, die zwar mathematisch äquivalent sind, aber doch unterschiedliche Beiklänge haben: Zum einen kann man sagen, mit demselben Einsatz an Arbeit könne immer mehr produziert werden; dies ist die übliche Interpretation. Ebenso könnte man aber auch davon sprechen, dass für die Produktion der gleichen Gütermenge immer weniger menschliche Arbeit benötigt wird – und es stellt sich die Frage, ob diese zweite Formulierung nicht die heutige Realität treffender beschreibt als die erste.

Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang zudem, dass die Arbeitsproduktivität keine spezifische Eigenschaft der jeweiligen Arbeitnehmerschaft ist, sondern eine Eigenschaft des gesamten Produktionsapparates, die insbesondere von dessen Ausstattung mit Kapital (insbesondere Maschinen) und dem Einsatz von Energie abhängt.

Auch renommierte Ökonomen lassen diese Tatsache gelegentlich außer Acht und kommen dadurch zu voreiligen Schlüssen. So versuchen P. Samuelson und W. Nordhaus in ihrer berühmten „Volkswirtschaftslehre“, die Befürchtung, unter Freihandelsbedingungen könnten die Löhne in den USA auf das viel niedrigere mexikanische Niveau absinken, wie folgt zu entkräften: „Der Grund, warum US-Amerikaner im Schnitt höhere Löhne erhalten, liegt darin, dass sie im Durchschnitt produktiver sind. Wenn unser Gleichgewichtslohn dreimal so hoch ist wie jener in Mexiko, so deshalb, weil wir in der Herstellung der marktgängigen Güter durchschnittlich dreimal so produktiv sind.“ ([Quelle], S. 795) Dem ist entgegenzuhalten, dass auch mexikanische Arbeiter ein dem amerikanischen vergleichbares Produktivitätsniveau erreichen können, sofern man sie entsprechend mit Kapital und Energie ausstattet. Zwar spielen auch Qualifikation und Wissen – wie von der endogenen Wachstumstheorie betont – unbestritten eine Rolle, die heute aber eher überschätzt wird; tatsächlich ist es in modernen Produktionsprozessen oft nur eine relativ geringe (und daher notfalls vorübergehend aus dem Ausland einfliegbare) Anzahl von Spezialisten, bei denen eine hohe Qualifikation wirklich entscheidend und unverzichtbar ist, während die menschliche Routinearbeit zunehmend austauschbar (und sowohl durch niedrig qualifizierte ausländische Arbeitskräfte als auch im Zuge der Automation durch billige „Energiesklaven“ ersetzbar) geworden ist. [Fußnote]Es ist rational schwer vorstellbar, dass hoch angesehene Ökonomen wie der Nobelpreisträger Paul Samuelson und der Yale-Professor William Nordhaus diesen elementaren Punkt außer Acht gelassen haben könnten. Eine mögliche psychologische Erklärung dafür hat in ähnlichem Kontext Herman E. Daly geliefert: „But it is still hard to understand how such distinguished economists could make such an egregious mistake. ... Could it be that, because the argument led to the ‚right‘ conclusion, it was exempted from the discipline of passing the test of elementary economics? ... Is the test of an argument that it leads to the desired conclusion? Not really, but if we are totally committed to the conclusion ..., then naturally we will be suspicious of any arguments that undermine that conclusion. And we may also look too indulgently on doubtful arguments that support the undoubted conclusion.“ [Quelle]

(2) Steigende Arbeitsproduktivität als Begründung für Lohnerhöhungen?

Ebenso voreilig ist es, Lohnerhöhungen ökonomisch mit einem Anstieg der Arbeitsproduktivität zu begründen. Um nicht missverstanden zu werden: Gemäß dem Prinzip, dass die Wirtschaft dem Menschen dienen soll und nicht umgekehrt, sollte das Erwirtschaftete selbstverständlich der breiten Masse der arbeitenden Bevölkerung zugute kommen – unabhängig von der ökonomischen Bedeutung des Faktors Arbeit [Fußnote]In diesem Kontext erscheint die Klarstellung nicht ganz überflüssig, dass die niedrigen Werte für die Produktionselastizität („Produktionsmächtigkeit“) der menschlichen Arbeit in den zitierten Studien von Kümmel et al. selbstverständlich rein deskriptiv zu verstehen sind und keinerlei Urteil über den gesellschaftlichen Wert der menschlichen Arbeit darstellen.. Allerdings ist es wenig überzeugend, mit der steigenden Arbeitsproduktivität zu argumentieren. Ebenso gut hätten – um im obigen Beispiel zu bleiben – die Pferdebesitzer des ausgehenden 19. Jahrhunderts unter Verweis auf die gestiegene Produktivität ihrer Pferde immer höhere Beförderungsentgelte verlangen können – um sich dann zu wundern, dass sie damit die Ersetzung ihrer Pferdefuhrwerke durch Automobile nur noch beschleunigen.

Zwar war es den Gewerkschaften über Jahrzehnte hinweg in den Tarifverhandlungen durchaus gelungen, den „Produktivitätsfortschritt“ zugunsten des Faktors Arbeit umzuverteilen. Hier lag als Rechtfertigung auf Seiten der Gewerkschaften implizit die in (1) diskutierte Vorstellung zugrunde, die gestiegene Arbeitsproduktivität sei primär das Verdienst der Beschäftigten, die dafür entsprechend belohnt werden müssten. Aus Sicht der Arbeitgeber hingegen war dieses Vorgehen aber weniger ökonomisch begründet, sondern wohl eher ein „Zugeständnis“ zur Bewahrung des sozialen Friedens. Heute, da die Manager aufgrund des Wegfalls der den Kapitalismus „domestizierenden“ und „humanisierenden“ Systemkonkurrenz durch den Sozialismus und aufgrund der Entfesselung des Turbo-Kapitalismus mit seinem steigenden Einfluss der Finanzmärkte und der auf Renditemaximierung drängenden Investmentfonds solche Rücksichten nicht mehr nehmen wollen oder können, ist diese früher selbstverständliche Partizipation am „Produktivitätsfortschritt“ geradezu in sich zusammengebrochen, wie die Stagnation der (realen) Lohneinkünfte in den letzten knapp 20 Jahren bei gleichzeitig explodierenden Gewinneinkünften zeigt.

Wenn man rein ökonomisch argumentieren will, so wäre nicht die Arbeitsproduktivität, sondern die Produktionselastizität des Faktors Arbeit die für die Verteilung des Erwirtschafteten relevante Größe: Lässt man den Marktkräften freien Lauf, so tendieren diese dazu, langfristig Produktionselastizitäten und Faktorkostenanteile ins Gleichgewicht zu bringen. (Denn solange kein solches Gleichgewicht besteht, ist es wirtschaftlich rentabel, einen Produktionsfaktor durch einen anderen mit einem für den Unternehmer günstigeren Verhältnis von Produktionselastizität und Faktorkostenanteil zu ersetzen.) Nun liegt der Kostenanteil der menschlichen Arbeit bei etwa 65%, ihre Produktionselastizität hingegen, wenn die oben erwähnten Studien zutreffen, nur in der Größenordnung von 10 bis 20%. Das Gleichgewicht würde sich daher auf einem Lohnniveau einstellen, das dramatisch unter dem heutigen liegt. Eine solche Entwicklung wäre offensichtlich nicht nur unter Verteilungsaspekten völlig inakzeptabel, sondern würde auch den sozialen Frieden massiv gefährden.

Abb. 2: Die Schieflage zwischen Arbeit und Energie. Die verwendeten Zahlen stellen einen Mittelwert dar, bezogen auf die Gesamtwirtschaft der letzten Jahrzehnte in den großen Industrienationen.

Leider ist sie aber heute schon Realität – wenn auch dadurch gemildert, dass sie sich erstens relativ langsam abspielt [Fußnote]Zu den Gründen, weshalb es zu keiner schnellen Nivellierung des Ungleichgewichts kommt, sondern dieses auch über längere Zeiträume bestehen kann, siehe die Erläuterungen im Anhang sowie in Produktionsfaktor Energie - Der stille Riese und zweitens momentan durch Wirtschaftswachstum noch halbwegs kompensiert werden kann.

Diese Betrachtungen zeigen eine erschreckende Diskrepanz zwischen der unbestritten hohen gesellschaftlichen Bedeutung menschlicher Arbeit und ihrer geringen rein ökonomisch-produktionstheoretischen Bedeutung, wie sie sich in ihrer niedrigen Produktionselastizität widerspiegelt. Es liegt daher auf der Hand, dass der Staat die Lohnfindung nicht völlig dem Spiel der Marktkräfte überlassen darf, sondern in sinnvoller Weise steuernd eingreifen muss. Die Festlegung von Mindestlöhnen greift hier allerdings – leider – zu kurz, da der Staat den Unternehmen zwar Niedriglöhne verbieten kann, nicht aber, dass sie Menschen durch von Energiesklaven getriebene Maschinen und Computer ersetzen – und damit überhaupt keine Löhne mehr zahlen müssen. Wirksamer ist es, wenn der Staat, ohne direkt in die Lohnfestsetzung einzugreifen, die ökonomischen Rahmenbedingungen so ändert, dass menschliche Arbeit gegenüber Energiesklaven konkurrenzfähig wird – z.B. durch eine Verlagerung der Steuerlast von der Arbeit hin zur Energie, wie sie in Umsteuern durch Energiesteuern ausführlich diskutiert worden ist. In der Diskussion um Lohnerhöhungen wird nicht selten (so z.B. ausführlich R. Hickel in [Quelle], S. 62-76) damit argumentiert, zwar seien in Deutschland die Löhne hoch, die Lohnstückkosten jedoch durchaus im Rahmen des international Üblichen. Dies ist zwar zutreffend, greift als ökonomische Rechtfertigung für Lohnsteigerungen jedoch zu kurz: Daraus folgt nur, dass sich deutsche Arbeitnehmer um mangelnde Konkurrenzfähigkeit im internationalen Vergleich wenig Sorgen machen müssen – die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Produktionsfaktoren innerhalb desselben Wirtschaftsraums wird dabei hingegen völlig ausgeblendet (siehe hierzu auch die Ausführungen unter (1) zu dem Zitat von Samuelson / Nordhaus). Dass es durchaus Wege aus diesem Dilemma gibt, zeigt der Artikel Netto statt Brutto!.

(3) Arbeitsproduktivität und Wachstumszwang

Kommen wir nun zum Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Zunahme der Arbeitsproduktivität. Offensichtlich gilt in für kleine Wachstumsraten guter Näherung [Fußnote]Dahinter steckt nicht viel mehr als die Definition der beteiligten Größen: Diese Beziehung folgt sofort, wenn man das BIP als Produkt aus Arbeitsproduktivität und Arbeitseinsatz schreibt und bedenkt, dass sich eine kleine prozentuale Veränderung eines Produkts durch die Summe der prozentualen Veränderungen der einzelnen Faktoren annähern lässt. :

Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) = Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität + Wachstumsrate des Arbeitseinsatzes.

Diese Beziehung zeigt, dass (bei konstantem Arbeitseinsatz, idealerweise bei Vollbeschäftigung) das Wachstum des BIP mit einem entsprechenden Wachstum der Arbeitsproduktivität einhergehen muss. In diesem Sinne haben wir uns daran gewöhnt, steigende Arbeitsproduktivität als Voraussetzung für Wirtschaftswachstum und damit als etwas Erstrebenswertes anzusehen: Wir verbinden damit die Vorstellung von höherem Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten bei kürzeren Arbeitszeiten und weniger körperlicher Schwerarbeit, wie es ja auch der historischen Erfahrung u.a. aus der Zeit des Wiederaufbaus entspricht. Man kann die Gleichung aber auch anders lesen: Bei (durch den technischen „Fortschritt“ [Fußnote]genauer: durch die Schieflage zwischen Arbeit und Energie bedingter) kontinuierlich steigender Arbeitsproduktivität muss die Wirtschaft in gleichem Maße mitwachsen – oder es muss der Einsatz an menschlicher Arbeit sinken, was in der Praxis steigende Arbeitslosigkeit und damit sinkende Steuereinnahmen bedeutet. (Der potentielle Ausweg Arbeitszeitverkürzung funktioniert angesichts der heutigen Machtverhältnisse allenfalls noch ohne Lohnausgleich und würde damit ebenso wie die Zunahme der Arbeitslosigkeit zur Verminderung des allgemeinen Wohlstands führen.)

Damit zwingt der scheinbar unaufhaltsame und „natürliche“ Trend kontinuierlich steigender Arbeitsproduktivität de facto zu permanentem Wirtschaftswachstum, wenn Arbeitslosigkeit und die Krise der Staatsfinanzen und Sozialversicherungen sich nicht noch weiter verschärfen sollen. Dieses Dilemma wird bis heute kaum erkannt – weil der Begriff steigender Arbeitsproduktivität so einseitig positiv besetzt ist.

(4) Bedeutet steigende Arbeitsproduktivität per se Fortschritt?

Nicht zuletzt sollte man sich auch davor hüten, die Steigerung der Arbeitsproduktivität unkritisch und pauschal als Fortschritt im Sinne einer aus übergeordneter gesellschaftlicher Perspektive wünschenswerten Entwicklung zu sehen. Steigerung der Arbeitsproduktivität bedeutet zwar unzweifelhaft einen ökonomisch effizienteren Umgang mit dem Faktor menschliche Arbeitskraft – damit haben wir aber lediglich einen suggestiven Begriff durch einen anderen ebenso suggestiven und kritikbedürftigen ersetzt. Denn auch wenn der Effizienzbegriff im Zuge der Überwucherung des gesellschaftlich-politischen Diskurses durch die Begriffswelt der Unternehmensberatungen geradezu zum heimlichen Diktator avanciert ist, dem sich Regierungen und Parlamente oftmals willig unterordnen, sollte man nicht vergessen, wie wenig der Maßstab der Effizienz als alleinige Richtschnur für gesellschaftliche Entscheidungen taugt. So wird zwar kaum jemand den Sinn eines effizienten Umgangs mit knappen Gütern anzweifeln (oder sich gar die berüchtigte Ineffizienz des „real existierenden Sozialismus“ zurückwünschen). Effizienz wird jedoch offensichtlich um so bedeutungsloser, je weniger knapp das betreffende Gut ist. Es stellt sich nun aber die Frage, in wieweit man beim Faktor Arbeit heute überhaupt noch von einem knappen Gut sprechen kann, angesichts von Massenarbeitslosigkeit in den Industrienationen und Überbevölkerung in den Entwicklungsländern, denen es für ein Entkommen aus der Armutsfalle viel eher an der Verfügbarkeit von Energie und Technologie denn an menschlicher Arbeitskraft fehlt. Gerade beim Umgang mit menschlicher Arbeitskraft, die nicht nur Produktionsfaktor ist, sondern auch für sich genommen eine wichtige sinnstiftende Funktion jenseits ihres Beitrags zur Erwirtschaftung des BIP hat, erscheint es deplaziert, allein den Maßstab der Effizienz anzulegen. Ein allzu „effizienter“ Einsatz menschlicher Arbeitskraft, die diese an die Grenze des Menschlichen bzw. Menschenmöglichen bringt, könnte nämlich die Freude an der Arbeit aufgrund des damit verbundenen Leistungs- und Zeitdrucks in einem derartigen Maße unterminieren, dass auch noch so große Zuwächse an materiellem Wohlstand dies nicht werden aufwiegen können.

Selbstverständlich hat die Steigerung der Arbeitsproduktivität in den vergangenen Jahrzehnten eine bis dahin ungekannte Zunahme des allgemeinen Wohlstands bei gleichzeitiger erheblicher Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch Arbeitszeitverkürzung und Entlastung des Menschen von schwerer, gefährlicher und monotoner Arbeit ermöglicht. Dies gilt insbesondere für den industriellen Sektor, aber auch für viele Routinetätigkeiten (vor allem bürokratische Aufgaben) im Dienstleistungsbereich, die in den letzten 20 Jahren zunehmend von Computern übernommen worden sind. Hier ist es sicherlich legitim, in der gestiegenen Arbeitsproduktivität gesellschaftlichen Fortschritt zu sehen. Ganz anders sieht es jedoch beispielsweise in den Bereichen Bildung, Medizin oder Soziales aus: Steigende Arbeitsproduktivität in Krankenhäusern oder Schulen bedeutet ja, dass ein Arzt immer mehr Patienten versorgen, ein Lehrer vor immer größeren Klassen unterrichten muss usw. In diesen und anderen Zukunftsbereichen wäre eine „sinkende Arbeitsproduktivität“ (im Sinne einer besseren personellen Ausstattung) sicherlich wünschenswert.

Ohne ein Umsteuern, eine Beseitigung des derzeitigen Ungleichgewichts zwischen den Faktoren Arbeit und Energie, droht die weitere einseitige Steigerung der Arbeitsproduktivität zunehmend auch in Bereichen, in denen es aus übergeordneter gesellschaftlicher Perspektive eigentlich nicht erwünscht ist. So hat bereits 1995 eine von Michail Gorbatschow organisierte Konferenz von 500 Politikern, Wirtschaftsführern und Wissenschaftlern langfristig eine 20:80-Gesellschaft prognostiziert, in der nur noch 20% der Arbeitskräfte wirklich benötigt werden, während die „restlichen“ 80% durch „tittytainment“, eine moderne Form von „Panem et circenses!“ bei Laune gehalten werden müssen.

Ein weiterer Fehlschluss ist es, Fortschritt einseitig auf die Steigerung der Arbeitsproduktivität zu reduzieren; er kann ebenso beispielsweise in einer Steigerung der Energieproduktivität bestehen. Letzteres wäre weitaus dringlicher und sinnvoller als weitere Produktivitätssteigerungen beim Faktor Arbeit. Es geht dabei nicht nur um die Erhöhung der Energieeffizienz in bestehenden Produktionsprozessen, sondern auch und gerade um eine grundsätzliche Abkehr von den Auswüchsen der automatisierten Massenproduktion von Wegwerfgütern, welche erst durch die billige Verfügbarkeit energieintensiv hergestellter Grundstoffe möglich wird. Angesichts des niedrigen Anteils der Energiekosten an den gesamten Produktionskosten bestehen unter derzeitigen Rahmenbedingungen jedoch kaum Anreize für ein derartiges Umsteuern.

Auch um die hier schlummernden Potentiale zu aktivieren, bietet sich eine schrittweise, aber konsequente Umschichtung der Steuer- und Abgabenlast von der menschlichen Arbeit zur Energie an. Damit wird der „Produktivitätsfortschritt“ nicht gestoppt – aber er wird umgelenkt, von einem Bereich, in dem er heute zumindest janusköpfig geworden ist (nämlich der menschlichen Arbeit), hin zu einem Bereich (der Energie), in dem er bisher sträflich vernachlässigt wurde.

Anhang: Produktionselastizitäten und der Irrtum der Neoklassik

Die konventionelle Wirtschaftstheorie beschreibt nur unzureichend die physische Sphäre der Produktion: Dies ist die Botschaft einer wachsenden Zahl von Abhandlungen in der Fachliteratur. Nicht wenige davon betreffen die Rolle der Energie als eigenständiger Produktionsfaktor neben Kapital und Arbeit. Dabei geht es darum, abzuschätzen, welcher Beitrag an der Gesamtwertschöpfung den einzelnen Produktionsfaktoren (Kapital, Arbeit, Energie) zugeschrieben werden kann. Um wieviel also nimmt die Produktion zu, wenn der Energieeinsatz beispielsweise um ein Prozent ausgeweitet wird, der Einsatz von Kapital und Arbeit jedoch unverändert bleibt? Je höher diese Produktionszunahme ist, je empfindlicher die Volkswirtschaft also auf kleine Variationen in der Faktoreinsatzmenge reagiert, als desto bedeutsamer wird man den jeweiligen Produktionsfaktor ansehen dürfen. Aus dem Verhältnis von (relativer) Produktionszunahme und (relativer) Veränderung der Faktoreinsatzmenge erhält man einen quantitativen Maßstab für die Leistungsfähigkeit des betreffenden Faktors: seine Produktionselastizität oder, anschaulicher ausgedrückt, Produktions­mächtigkeit. Diese stellt eine dimensionslose Größe zwischen 0 und 100% dar. Wenn – um ein fiktives Beispiel zu geben – ein Produktionsfaktor die Produktionselastizität 27% hat, so bedeutet dies, dass ein Mehr- bzw. Mindereinsatz dieses Faktors von 1% die Wertschöpfung (bei konstantem Einsatz der übrigen Faktoren) um 0,27% wachsen bzw. schrumpfen lässt. Die neoklassische Wachstumstheorie setzt die (a priori unbekannten und nur schwer zugänglichen) Produktionselastizitäten mit den (mehr oder minder wohlbekannten) Faktorkostenanteilen gleich. Wenn diese Annahme zuträfe, müssten die Produktionselastizitäten in den Volkswirtschaften der Industrienationen ungefähr folgende Werte haben: Arbeit 65 Prozent, Kapital 30 Prozent, Energie 5 Prozent. Dass menschliche Arbeit so viel teurer als Energie ist, wäre gerade dadurch gerechtfertigt, dass Arbeit wesentlich „leistungsfähiger“ ist.

Doch das längerfristige reale Wirtschaftswachstum der Industrieländer ist damit nicht einmal annähernd quantitativ erklärbar. Es bleibt ein großer, unverstandener Rest (das sog. Solow-Residuum), der dem „technischen Fortschritt“ zugeschrieben wird, welcher „praktisch wie Manna vom Himmel“ falle. Für die Wirtschaftsentwicklung der USA im Zeitraum von 1909 bis 1949 beispielsweise liegt der Beitrag des Solow-Residuums bei 87,5 Prozent; der unerklärte „Rest“beitrag ist wichtiger als die erklärenden Faktoren. Auch die konjunkturellen Einbrüche im Gefolge der Ölpreisschocks der 1970er Jahre lassen sich mit der neoklassischen Gleichgewichtsannahme nicht angemessen verstehen: Angesichts des Anteils der Energiekosten von 5% an den Produktionskosten hätten bei Gültigkeit dieser Annahme lediglich 5% des prozentualen Rückgangs im Energieeinsatz auf die Wertschöpfung durchschlagen dürfen. Tatsächlich ist in den USA und Westeuropa die Industrieproduktion jedoch fast im Gleichschritt mit dem Energieeinsatz zurückgegangen.

Aus Sicht des Physikers und Ingenieurs ist es evident, dass der technische Fortschritt keinesfalls „wie Manna vom Himmel“ fällt, sondern seit jeher von einer Ausweitung des Energieeinsatzes getragen wurde. Es erscheint daher überfällig, die Energie als eigenständigen Produktionsfaktor in wachstumstheoretische Analysen einzubeziehen und dessen ökonomische Leistungsfähigkeit, d.h. Produktionselastizität genauer zu studieren. Dieser Aufgabe widmen sich die im Haupttext zitierten ökonometrischen Untersuchungen von Naturwissenschaftlern und Ökonomen der Universitäten Karlsruhe, Köln und Würzburg sowie der European School of Business Administration in Fontainebleau. Darin wurden die Produktionselastizitäten von Arbeit, Energie und Kapital aus den Zeitreihen der Wertschöpfung und der Faktorinputs verschiedener Industrieländer empirisch bestimmt. Demzufolge liegt in den industriellen Sektoren die Produktionselastizität der Energie im zeitlichen Mittel der letzten Jahrzehnte in der Größenordnung von 50 bis 60%, also etwa um den Faktor 10 über dem Kostenanteil der Energie. Umgekehrt liegt die Produktionselastizität der menschlichen Arbeit stets weit unter ihrem Kostenanteil von 65 bis 70%, meist im Bereich von 10 bis 15%. Lediglich für den Faktor Kapital sind Produktionselastizitäten und Kostenanteile ungefähr im Gleichgewicht. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Ökonomien der Industrienationen weit von einem Gleichgewicht im neoklassischen Sinne entfernt sind.

Wo liegt der Irrtum der neoklassischen Wachstumstheorie? Vereinfacht argumentiert die Neoklassik wie folgt: Würden Faktorkostenanteile und Produktionselastizitäten voneinander abweichen, so wäre die gegebene Faktorkombination nicht optimal, und es würden Substitutionsprozesse eintreten, die zu einer Nivellierung des Ungleichgewichts führen würden. Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass diese Ausgleichsprozesse keinesfalls instantan ablaufen, sondern mitunter lange Zeiträume benötigen: Zum einen erweitern sich die Möglichkeiten, Arbeit durch Energie [Fußnote]genauer: Arbeit-/Kapital-Kombinationen durch Energie-/Kapital-Kombinationen zu substituieren, erst Schritt für Schritt im Zuge neuer technischer Entwicklungen. (So war es vor 30 Jahren technisch noch nicht möglich, die Kreditabteilung einer Bank durch einige Computer mit passender Software zu ersetzen!) Zum zweiten ist es denkbar, dass die mit Rationalisierungsmaßnahmen verbundenen Kosten höher sind als die dadurch erzielte Gewinnsteigerung, so dass sie bis zu ohnehin fälligen Modernisierungen des Kapitalstocks hinausgezögert werden. Und schließlich „behindern“ gesetzliche und tarifvertragliche Regelungen wie etwa der Kündigungsschutz (noch) die Substitution teurer Arbeit durch billigere Energiesklaven. Dies alles führt dazu, dass sich die Substitutionsprozesse, die das Ungleichgewicht nivellieren, über Jahrzehnte hinziehen können. Die neoklassische Gleichsetzung von Faktorkostenanteilen und Produktionselastizitäten wäre somit zwar korrekt für eine Wirtschaft, die sich bereits in einem langfristigen Gleichgewichtszustand eingependelt hat, also für eine statische Wirtschaft ohne technischen Fortschritt. Auf dynamische Ökonomien hingegen ist sie nicht anwendbar.


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